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Geschichten und Texte

für Badewanne und Klo

Aurora

Es ist nur das Ticken des Blinkers zu hören. Die Ampel wechselt auf grün. In die Monotonie des Motors mischt sich ihr Schluchzen. Er legt seine Hand auf ihr Bein, tröstend. Dann fährt er rechts ran.

Sie stehen dort eine lange Zeit, sprechen kein Wort.

Ihr Schluchzen wird wieder stärker, findet dann wieder den Rhythmus des normalen Atmens. Stille.

„Wie können die das nur so kalt formulieren?“

Wut. Hilflosigkeit.

„Mit dem Leben nicht vereinbar.“

Ihre Hand liegt auf der warmen Rundung ihres Bauches.

„Ich spüre es doch leben, wie können die so etwas sagen?“

Er nimmt seine Brille ab, legt sie auf das Armaturenbrett, reibt sich die Augen. Seine Gefasstheit schockiert ihn. Dennoch: Er fühlt sich nicht in der Lage, sie in den Arm zu nehmen. Er schämt sich dafür. Langsam nimmt er seine Hand und führte sie auf ihren Bauch. Es ist fast nicht auszuhalten. Er muss sich dazu zwingen, den Bauch zu berühren, den er noch gestern vor dem Einschlafen geküsst hat aber das ist er ihr schuldig. Sie muss die Wahrheit in sich tragen, sie kann sich nicht davonstehlen. So liegen zwei Hände, seine und ihre, auf einem Bauch, der ein kleines Leben umhüllt, das nicht zum Leben bestimmt sein soll. Dort, wo sich ihr ganzes Glück eingenistet hat, soll nun Abschied heranwachsen, Schmerz, Ungewissheit, Hilflosigkeit, Einsamkeit?

 

Bei der ersten Untersuchung war er dabei gewesen. Die kleinen Zeichen in Schwarzweiß, die vielversprechend auf ein Leben hindeuteten, sein Kind zeigten, ihr Kind, hatten in ihm ein Gefühl ausgelöst, das er in dieser Intensität noch nicht gekannt hatte. Sie hatten lange auf diese Bilder gewartet, viele Monate gemeinsam Enttäuschungen hingenommen, mit jedem Mal Sex all ihre Liebe und all ihre Hoffnung gegeben, der Resignation tapfer die Stirn geboten – und dann waren da eines Tages diese zwei roten Streifen, kostbar und zerbrechlich. Richtig glauben konnten sie es erst, als der Arzt ihnen das schlagende Herz zeigte.

 

Die Scheibenwischer setzen ein. Kleine Perlen tanzen mit dem Wachs auf dem Glas und suchen sich ihre Wege in unvorhersehbaren Verästelungen. Am Ende kommen sie alle unten an und verfließen im Alles und Nichts.

 

Er hatte sie dafür bewundert wie hoffnungsvoll sie die ersten Schocknachrichten aufnahm. Cool bleiben wollte sie, nicht in Spätgebärenden-Hysterie verfallen. Erst mal abchecken lassen, dann weitersehen. Dass das Baby etwas zu klein war musste nichts bedeuten. Dass man beim nächsten Ultraschall einen Finger nicht sehen konnte auch das war kein Urteil. Die Chancen auf Down-Syndrom stünden eins zu zehn, beruhigte sie ihn. Die Flüssigkeit im Kopf konnte, musste aber kein Zeichen sein. Eine Woche später fuhren sie in eine Spezialklinik. Der Arzt in seinem weißen Kittel, den Montblanc-Kugelschreiber in der Brusttasche, machte nur seinen Job als er ihnen zahlreiche Broschüren über die breite Holzplatte des Tisches schob. Auch die Wolken am Himmel nahmen unbeirrt ihren windgetriebenen Lauf. Alles ging weiter. Doch für sie veränderte sich in diesem Moment ihr Leben. Man sprach plötzlich nicht mehr von Eventualitäten und Chancen, nur noch von Gendefekten, Missbildungen und Lebenserwartungen. Hoffnungsvoll, engstirnig klammerten sie sich gedanklich an die Diagnose Down-Syndrom – unter all den dargestellten Möglichkeiten das kleinstmögliche Unglück.

Abends im Bett strich er ihr über das Haar, suchte mit den Fingerkuppen die Stelle am Nackenansatz, die er so liebt, wo sich ihre kupferblonden Haare feucht und sanft in ihren kleinsten Windungen vereinen. Er zog sie eng an sich und legte seine Lippen auf ihr Ohr: „Ich liebe dich. Ich liebe dich mehr als alles auf der Welt. Ich liebe unser Kind, das du trägst. Ich werde es lieben, bis ans Ende aller Tage.“

Sie würden es also bekommen. Es war nicht das Leben, das sie sich vorgestellt hatten, aber es war nun ihr Leben.

 

Und nun haben sie die Gewissheit. Man hatte sie ins Krankenhaus bestellt, um die Ergebnisse der Fruchtwasser-Untersuchung zu besprechen. Die schlimmste Befürchtung hat sich bestätigt: Trisomie 18. Die durchschnittliche Lebenserwartung bei diesem Gendefekt beträgt fünfzehn Tage. Die meisten Kinder sterben schon im Mutterleib, nur wenige schaffen es über das erste Lebensjahr hinaus. Die Karten haben sich neu gemischt. Es gilt nun nicht mehr nur zu entscheiden, ob man selbst bereit ist, ein behindertes Kind großzuziehen, es gilt auch zu entscheiden, ob man seinem Kind Leiden ersparen möchte. Die Ärztin hatte dringend zur Abtreibung geraten.

 

Auf ihrem Bauch berühren sich ihre kleinen Finger. Sie begegnen sich zaghaft, finden sich schließlich und winden sich entschlossen ineinander, als gälte es, mit dieser Verbindung einen Kampf gegen die Welt zu führen.

 

Der Regen hat zugenommen, die Scheibenwischer erzeugen nur noch für den Bruchteil von Sekunden einen klaren Blick und schon taucht das Wasser den grauen Himmel, die grünen Knospen und die marmorierten Blüten in verschwommene Erinnerung.

 

Er hat das Gefühl, sie könnten so nicht ewig bleiben, er müsse etwas tun, es müsse weitergehen. Langsam und behutsam löst er seinen Finger aus der Verbindung und startet den Motor. Der Wagen bahnt sich seinen Weg über grauen Asphalt durch schäumende Pfützen. In der Garage finden die Scheibenwischer ihre Ruhe.

 

„Aurora“, wird sie später im Bett flüstern, als sie keinen Schlaf finden. Und er wird verstehen, was sie damit meint: Dieses Leben würde seinen Abend nicht finden, aber die Morgenröte konnte ihnen niemand nehmen.

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