top of page
Salongeflüster.heic

Salon
geflüster

Geschichten und Texte

für Badewanne und Klo

Drei

Ich wache auf. Nicht langsam. Kein plazentaroter Übergang. Sondern: Plötzlich bin ich wach. Ich liege in der Dunkelheit des Raumes und überlege, ob es möglich ist, dass ich schon ausgeschlafen bin. Ich denke ein wenig nach und komme zu dem Schluss, dass ich bereit bin für den Tag. Vorsichtig schiebe ich den Vorhang einen Spalt auf und sehe mir die Wetterlage an. Die Sonne scheint.

 

Meine Augen haben sich an die Helligkeit gewöhnt und ich öffne den Vorhang ganz. Wie ein Rahmen das Fenster, wie ein Gemälde die Aussicht. Die drei Birken tanzen im Wind. Ihre kleinen, agilen Blätter sind das, was ich an ihnen so liebe: Bewegung, Leben, Energie. Ich liebe auch ihren hohen Wuchs und die Ästhetik ihres weißen Stammes und ich liebe die Erinnerung an meine Kindheit, die ich mit ihnen verknüpfe.

 

Im Garten stand mittig, in ihrer Bescheidenheit erhaben und in ihrer Selbstverständlichkeit, wie sie da groß, einzeln und unbeeindruckt im Zentrum des Gartens thronte, majestätisch, eine Birke, die mich insoweit herausforderte, dass ich sie ohne die Hilfe der angehängten Strickleiter nicht erklimmen konnte. Jahre später, wenn ich an die Strickleiter denke, danke ich meinen Großeltern für diese liebevolle erzieherische Weitsicht, denn die Strickleiter war hoch gehängt und nicht einfach zu erklimmen. Mir blieben also die Herausforderung und das Gefühl, mein Ziel selbst zu erreichen. Mir wurde genauso viel Unterstützung gegeben, wie ich benötigte und genau so viel zugetraut, wie ich erreichen konnte. Bäume zu erklettern war meine kindliche Leidenschaft und noch heute laufe ich kaum an einer Mauer vorbei, ohne sie zu besteigen: oben zu stehen, dem Himmel ein kleines Stückchen näher zu sein, die Perspektive zu wechseln, verbunden mit dem Gefühl, selbst dafür verantwortlich zu sein. Und wenn ich meinen Großvater beim Spaziergang bat, mich ein kleines Stückchen hochzuheben, weil ich es aus eigenen Stücken nicht schaffte, so höre ich heute noch seine brummigwarme Stimme: „Du kannst auf jeden Baum klettern, auf den du selbst hochkommst“.

 

So liege ich im Bett, betrachte Birken und Himmel und Wolken und Vögel und lasse Erinnerungen an mir vorbeiziehen, Freuden für den anstehenden Tag, Gedanken und Gefühle. Diese allmorgendliche Zeit im Bett genieße ich. Die Vorhänge, das Fenster, die Bäume da draußen: Das alles ist jeden Tag gleich; und doch ist jeden Morgen alles anders: das Licht, die Windstärke, die Begrünung im Wandel der Jahreszeiten, alles. Nie erwache ich mit demselben Gedanken, nie mit derselben Stimmung. Jeder Tag ist neu. Jeder Tag ist anders. Jeder Tag ist ein neues Abenteuer und ich darf ihn erleben.

bottom of page