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Geschichten und Texte

für Badewanne und Klo

Harmlose Spinnerin

Ich denke manchmal an sie.

Nie habe ich ein Wort mit ihr gewechselt,

doch noch nach all den Jahren ist sie in meinem Leben präsent.

Manchmal blickt sie mich ungefragt im Spiegel an, manchmal lauert sie mir um die Ecke einer Straßenkreuzung auf oder sie lächelt mich über den Rand eines Buches hinweg an.

Ich weiß nicht wie sie hieß.

Sicher lebt sie nicht mehr.

 

Ich wuchs in einem Dorf auf (nahe einer beschaulichen Stadt im Süden des Landes) wo nur eines gilt: nicht aus dem Rahmen zu fallen. Fährst du einen großen Wagen machst du dich ebenso zu Gespött wie mit einer alten Kiste. Verdienst du zu viel Geld bist du abgehoben, verdienst du zu wenig hast du es nicht geschafft. Selbst die akzeptierte Haarlänge fällt in einen kleinen Spielraum zwischen zu lang oder zu kurz. Das Schlimme an all dem ist, dass diese Verhaltensweise eine unhinterfragte und meist unbemerkte ist. Man hat sie verinnerlicht. Brav und sittentreu begräbt man seine Träume als Hirngespinste (nur Flausen im Kopf!) und passt sich an: Nicht zu laut reden, nicht zu leise, nicht schlendern und ja nicht rennen! Kurzum: die Kirche im Dorf lassen.

Mein abgedrehter Kunstlehrer war das Stadtgespräch Nummer eins, allein dadurch, dass er selbstbewusst seine Andersartigkeit zur Schau trug (blaue Haare! Lackierte Fingernägel! Und das soll Kunst sein?).

Heute denke ich, dass er gar nicht so andersartig war. Nicht andersartig genug, um von dort fort zu gehen, denn überall sonst wäre er wohl normal gewesen. Der Preis für sein Exotentum war der Spott und manchmal auch die stille Bewunderung. Dort konnte er glänzen, wenn auch in Einsamkeit.

Es hört sich für mich nun sehr fremd an, denn es ist weit weg. Doch es ist nicht erfunden und kaum übertrieben. So ist es dort. Es stört die Leute nicht. Im Gegenteil, sie bleiben dort, weil sie es so wollen. Ihnen ist das lieber als die Verantwortung für ihr Denken und Leben selbst zu übernehmen. Mittlerweile bin ich davon überzeugt: Dahinter steckt Angst. Wer eigenständig denkt und Verantwortung für sich übernimmt, der muss sich eben auch selbst zur Rechenschaft ziehen, wenn er scheitert. Selbstbestimmtes Glück, Selbstverwirklichung – gerne gesehene Bauernopfer! (andere zu verurteilen und verantwortlich zu machen ist da viel komfortabler und kann sogar Spaß machen). Ich klinge zynisch. So mag ich mich nicht. Doch ja, es steckt noch Unverdautes in mir. Ich musste mich da herausstrampeln mit so viel Energie.

 

Man nannte sie das Polenweibchen.

Auch hier übertreibe ich nicht.

In einen Spitznamen schaffte man es tatsächlich,

all diese Ressentiments zu packen.

Sie war alt und niemand wusste, woher sie kam (aus Polen vermutlich).

Sie hatte keinen Mann und keine Kinder.

Sie lief tagein tagaus durchs Dorf und lächelte vor sich hin.

Man nannte sie eine harmlose Spinnerin.

Das ist alles, was man von ihr wissen musste.

Ich habe nie gesehen, dass sie mit jemandem gesprochen hat.

Sie lief ihrer Wege und lächelte.

Das allein war den Leuten suspekt.

Das war der Grund, der sie zur Ausgestoßenen machte.

Und vermutlich, dass sie aus Polen kam.

 

Dieser harmlosen Spinnerin gingen wir Kinder aus dem Weg. So hatten wir es gelernt. Oder wir versuchten, sie zu ärgern und riefen ihr Dinge hinterher. Sie ließ sich nicht ärgern und nicht einmal irritieren. Sie lief nur weiter ihrer Wege und lächelte.

Meine Mutter sagte mir neulich am Telefon: „Jetzt lass mal die Kirche im Dorf.“ Früher hätte ich klein beigegeben und diese Aussage als Argumentation hingenommen. Ich überraschte mich selbst mit meiner Antwort: „Mama, ich lass dir deine Kirche, an die ich nicht glaube, gerne in deinem Dorf, in dem ich nicht leben möchte.“ Und da dachte ich wieder an das Polenweibchen. Die harmlose Spinnerin. Die als verrückt galt, weil sie anders war und weil es ihr vermutlich egal war. Die fremd war, weil sie von wo anders kam und andere Ziele und Wege hatte. Die lächelte. Vor der man Angst hatte, obwohl sie sich nicht ärgern ließ. Harmlos war sie immerhin, die Spinnerin.

 

Noch heute, wenn sich mein Ich aus den festgewachsenen Wurzeln löst, spüre ich diese tiefsitzende Angst, eine harmlose Spinnerin zu sein.

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