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Geschichten und Texte

für Badewanne und Klo

Jonte

Jonte war schon immer anders, besonders. Wir lernten uns bei einem Bierbraukurs kennen, den ich von meiner Exfreundin geschenkt bekommen hatte. Er wurde von seiner Mutter geschickt. Wir fühlten uns gleichermaßen fehl am Platz und kamen ins Gespräch. Wir beschlossen, den verdutzten Kursleiter und die glanzgesichtigen Teilnehmer zurückzulassen und gemeinsam auf ein Bier zu gehen. Eine Entscheidung, die für mich wegweisend war. Die Geschichte, die ich hier schreibe, um sie für mich selbst zu verarbeiten und für andere, offene Geister zugänglich zu machen, hat mein Leben auf eine kostbare, besondere Art und Weise geprägt. Ich bin unheimlich dankbar dafür. Meine Freundin wollte wissen, wie mir der Kurs gefallen hatte. Wunderbar, behauptete ich. Jonte sagte seiner Mutter, dass er das gutgemeinte Geschenk zugunsten einer bereichernden Bekanntschaft nicht zu Ende führen konnte.

So war Jonte.

 

„Weißt du noch worüber wir damals in diesem portugiesischen Restaurant in Toulouse gesprochen haben, der Nachruf auf den jungen Kerl, Moritz?“, fragte er mich an einem Abend auf meinem Balkon, jenem Abend, der mein Leben für lange Zeit aus den Fugen geraten ließ, um es danach zu neuer, noch ganzerer Schönheit zusammenzusetzen. Ich wusste nicht, auf was er anspielte.

„Er war neunzehn, als er von seiner Krebserkrankung erfuhr und wusste, dass er sterben würde.“

Nun erinnerte ich mich. Jonte hatte mir den Artikel gezeigt und ich weiß noch, dass ich tief berührt war. Ein Freund dieses jungen Mannes, der das Leben so früh verlassen sollte, hatte einen Nachruf geschrieben, der voller wärmender Menschlichkeit war. Moritz sei immer ein Optimist gewesen, einer, der sein Leben als kostbares Geschenk mit gleichsam unschuldiger und dennoch weiserer Gesinnung als ein hundertjähriger tibetanischer Mönch ansah und gestaltete. Einer, dessen Lebensfreude andere einlud, daran teilzuhaben. Einer, der im Angesicht seines eigenen Endes keine Bitterkeit aufkommen ließ, sondern tapfer dankbaren Abschied nahm. Einer, der immer anders gewesen sei, seinen eigenen Willen hatte, seine eigenen Ideale, seine eigenen Vorstellungen, und diese so selbstsicher und natürlich lebte, dass er damit niemanden befremdete, sondern die Leute zu ihm aufsahen. Ein Voranbringer, einer mit Ideen, einer mit Visionen, einer mit dem stoischem Willen, die Dinge nicht zum Besseren zu wenden, sondern das Beste in den Dingen zu beleuchten und aus ihnen herauszuholen. Und so war er als Sieger aus diesem Leben geschieden. Unter dem Nachruf eine Sintflut an bedauernden Mitleidsbekundungen der Social-Media-Gemeinschaft.

„Die Menschen haben nicht verstanden“, sagte Jonte als ich ihm das Handy zurückgab. Darauf schwiegen wir eine Runde. Wenn wir schwiegen wussten wir, dass wir uns verstanden. Vielmehr als wenn Worte eine tiefergehende Übereinkunft abstrakt herzuleiten versuchten. Hätten die Leute mehr von Moritz` Weltverständnis, von diesem unerschütterlichen, erhabenen Optimismus, hätten sie begriffen, dass es hier nicht um den Abschied von einer besonderen, wertvollen Person ging, sondern dass dies ein Loblied auf seine gewesene Anwesenheit war. Eine Ode an die Freude. Es ging nicht um verwirkte Chancen eines zu kurzen Lebens, es ging um das Sein und Wirken eines neunzehnjährigen Lebens, das in seiner Dauer einen kleineren Kreis zog als viele andere, in seiner Vollständigkeit und Rundheit aber von magischer Vollkommenheit war. Es ging nicht um ein ungelebtes Leben, es ging um ein gelebtes. Moritz hatte gelebt.

„Ja, ich erinnere mich“, gab ich Jonte zur Antwort. Schweigen. Seine Augen wanderten über die in Gold getauchten Weinreben und Flächen unter der untergehenden Sonne.

„Ich werde sterben“, sagte er.

Als hätte man mir mit einem Mal die Luft abgeschnürt. Eine panische Reaktion meiner Eingeweide. Eine hilflose Schutzsuche in Ungläubigkeit. Eine Klaviatur von Gefühlen durchlebt in einem Moment von Sekunden. Dann erinnerte ich mich Jontes Anwesenheit und begriff die Tragweite seiner Worte. Ihm zuliebe schob ich meine verwirrten Gedanken zur Seite und konzentrierte mich auf das Wesentliche. Jonte. Moritz. Die Jonte-Moritz-Verbindung. Wir umarmten uns weinend und er drückte tröstend meine Schulter als wäre ich derjenige, den es zu beruhigen galt. So war Jonte.

 

Er ließ mir ein paar Tage Zeit um mit der Nachricht umzugehen bevor er mich anrief, um mir die sonderbarste Einladung zu einer Feier zu machen, die ich mir vorstellen konnte.

„Es soll ein Fest werden mit allen, mit denen ich mein Leben teilen durfte. Ich möchte nicht, dass ihr an meinem Grab Abschied nehmt. Ich möchte keinen Abschied. Ich glaube nicht an Anfang und Ende. Ich glaube, das Leben ist kein halber Wimpernschlag im Großen und Ganzen, es ist einfach ein kleiner Ausschnitt aus einem großen Bild, der nicht von Endlichkeit, sondern vom Blickwinkel bestimmt wird. Ich möchte mit euch weitersein. Und ich wünsche mir auch euch zuliebe, dass ihr das versteht, dass ihr das versucht, dass euch das gelingt“.

Wir schwiegen.

 

Wenn mich jemand fragt, was das alles zu bedeuten hat, dieses Leben, dann erzähle ich von seinem Fest. Er hatte alles schlicht gehalten, im Garten seiner Eltern einen Pavillon aufgestellt, in den Bäumen hingen Lampions. Seine Mutter hatte ihm seinen Lieblingskuchen gebacken – Apfelkuchen – und dazu gab es den dünnen Kaffee, für den sie bekannt war. Wir saßen und tranken und erzählten uns Geschichten von Momenten mit Jonte. Oft weinten wir. Viel lachten wir. Sein Vater zeigte uns den Pflaumenbaum, den er bei Jontes Geburt gepflanzt hatte. Er war großgewachsen und stand in Blüte. So war Jonte.

 

Ich glaube nicht, dass Jonte sein Geschenk an uns mit allen teilen konnte. Ich sah eine gebrochene Seele im Gesicht seiner Mutter. Ich sah seinen Vater, dessen ganzer Körper unaufhörlich zitterte, während er sich mit emsiger Gastfreundschaft zwang, über sein tieftrauriges Inneres ein Feiergesicht zu legen. Seine Schwester blieb fern. Sie schaffe das nicht, sagte sie. Manche bleiben fern. Die meisten kamen. Und einige verstanden.

Wer Jontes Grab besucht, sieht die Früchte seiner Botschaft, seines Erbes an uns. Es wächst ein neuer Pflaumenbaum, ein Windrad quietscht lebendig im Takt der vergnüglichen Endlosigkeit des Windes. Dem Auge zeigt sich ein buntes Meer aus Blüten, egal zu welcher Jahreszeit.

Die Feier war das letzte Mal, dass ich Jonte lebend sah. Wir alle. Er hätte über Suizid nachgedacht, meinte er, als er mich zu seiner Feier einlud. Er wollte sich das Leiden ersparen. Aber dann hätte er begriffen, dass auch dieses ein Teil seines Lebens sein sollte. Er wollte sein Leben dem natürlichen Lauf überlassen. Er machte kein Geheimnis aus der Angst, die ihn in manchen Momenten aufsuchte, aus der Panik, wenn er nachts im Bett schweißgebadet aufschreckte und heulend seine bebenden Beine umklammerte wie ein furchtsames Kind. Er spielte nicht den Starken, der er dadurch war.  Er brauche die Zeit vor seinem Tod für sich um Abschied zu nehmen und Frieden zu finden. Er fand ihn. Er selbst informierte die Behörden über seinen Tod ehe er starb, damit er anderen einen schlimmen Anblick ersparen konnte. Als die Polizei eintraf fand sie ihn tot in seinem Bett – mit einem Lächeln im Gesicht.

So war Jonte.

 

Am Tag der Beerdigung sah man nicht in die trauernden Gesichter einer fremden, schwarzgekleideten Masse. Man blickte in die Augen von Freunden und teilte diesen Moment mit all seinen verschiedenen Facetten. Es gab kein Richtig und kein Falsch, keine trostlose Etikette, es gab nur ein Hier und ein Jetzt und einen Raum für alles, was dieses prägte.

Manche leben ihr Leben wie einen hundertjährigen Schlaf und erwachen erst im Moment, in dem sie sein Ende erspüren. Nicht Jonte. Er lebte sein Leben wach. Jetzt schläft er.

So ist Jonte.

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