„Ein zeitweiliger Rückzug von allen Dingen des Lebens und Nachdenkens über das Göttliche ist für deine Seele eine ebenso notwendige Nahrung, wie es die materielle Nahrung für deinen Körper ist.“
Leo Tolstoi
von Nora Brandt
Artwork: venusthecat
Häufig verbindet man mit dem Begriff soziale Isolation, ein Sich-abgetrennt-Fühlen von der Welt, ein müdes Gähnen unserer Lebensenergie, das den Sinn unseres Daseins infrage stellt. Meist ist Einsamkeit im Sprachgebrauch negativ konnotiert. Diese Form von Einsamkeit kann krank machen, Vorstufe oder Begleiterscheinung von Depression sein, ein Zustand, der sich anfühlt wie ein Strudel in einem Fass ohne Boden. Diese Einsamkeit kann ein ungewählter Zustand sein, bedingt durch äußere Faktoren, wenn ein soziales Netz, Liebe und Zärtlichkeit fehlen. Oder: ein inneres Gefühl, das unabhängig von sozialen Bindungen auftreten kann. Selbst innerhalb eines sozialen Netzwerks und unter Menschen kann tief in einem selbst dieses schmerzliche Sich-unverbunden-Fühlen nagen. Doch Einsamkeit kann auch anders gestaltet sein. In ihr liegt eine Kraft, die wir uns zunutze machen können.
Einsamkeit ist unabdingbare Voraussetzung für Verbindung
In einer Welt, die das Glück als erstrebenswerten Zustand proklamiert, liegt nahe, dass dieses Gefühl der Einsamkeit kein erstrebenswerter Zustand ist, vielmehr etwas, das man um jeden Preis vermeiden sollte. Man flüchtet sich in die Bewegung, in die Beziehung, in die Masse – und wird in stillen Momenten merken, dass man ihr trotz aller Versuche nicht entkommen kann. Wir Menschen erleben uns als Individuen. Mehr und mehr verschwindet ein kollektives Bewusstsein. Unsere Zeit drängt uns in die Isolation. Das sind Faktoren, die die Einsamkeit unumgänglich machen. Wir stehen vor dem Paradoxon, Einzelne*r in einem Ganzen zu sein. Immer wieder werden wir an dieses Einzelsein erinnert, und wenn wir das Gefühl vermeiden möchten, auf uns alleine gestellt zu sein, uns mit uns selbst zu beschäftigen, kommt es zu emotionalen Konflikten. Die Tatsache, dass wir den Zustand als paradox empfinden, liegt in unserer westlichen Denkweise begründet. Die paradoxe Logik (Erich Fromm) anderer Kulturen oder Religionen stellt Widersprüche nicht konträr zueinander und sieht den Menschen als Rolle in einem karierten Strategiespiel, in dem nur Schwarz oder Weiß gewinnen kann. Denken wir an das Symbol des Yin und Yangs, werden wir daran erinnert, dass es das Dunkle nur und erst durch das Helle geben kann und vice versa. Hätten wir diese Logik verinnerlicht, würden wir begreifen, dass ein Getrenntsein ein unabdingbarer Teil des Verbundenseins ist und müssten uns nicht schmerzlich in Scheinwidersprüchen zerreiben. Dann würden wir begreifen, dass eine Ordnung gerade aus dem Vorhandensein der Fülle, die sich in ein Ganzes fügt, entsteht.
„Das Schwere ist des Leichten Wurzelgrund“, wusste Lao-Tse. Ein Scheinwiderspruch, der keiner ist, betrachtet man das Bild als Ganzes. Nur mit Wurzeln kann ein Baum wachsen. Nur mit der Beschäftigung mit sich selbst, der stillen und bewussten Auseinandersetzung mit dem Ich, der immer wieder neu herausfordernden Integration dessen in ein Wir, kann ein Mensch wachsen. Wer, diesem Bild folgend, die Wurzeln kleinhalten möchte, wird nicht gesund wachsen und sich aus seiner Form drängen. Um in die Höhe und Breite zu wachsen, müssen wir der Tiefe ihren Raum geben. Damit wir diese als negativ bewerteten Emotionen wie Einsamkeit, Trauer, Angst, Wut, Eifersucht bewältigen können, müssen wir sie annehmen. Und dann werden wir merken, dass wir erst dadurch in uns selbst Räume eröffnen, welche von den vermeintlich erstrebenswerten Emotionen wie Freude, Liebe und Glück ausgefüllt werden können.
Reframing: Einsamkeit zum Wert erheben
Nach dem Psychologen Paul Ekman gehen alle Gefühle, die ein Mensch hat, auf sieben Basisemotionen zurück: Freude, Trauer, Ekel, Angst, Überraschung, Wut und Verachtung. Eine scheinbar ernüchternde Bestandsaufnahme, zieht man eine Negativ-Positiv-Bilanz. Folglich wäre der Mensch verbannt in ein Leben, das zum Großteil „schlechte“ Gefühle bereithält. Dies lässt den Schluss zu: Wer sich entscheidet, Gefühle in gute und schlechte, erstrebenswerte und vermeidbare einzuteilen, wird in der Lebenslotterie schon verloren haben, ehe er*sie zum Zug kommt. Und es stellt sich die Frage: Warum hat die Liebe hier keinen Platz? Ist die Liebe nicht auch ein uns angeborenes Grundgefühl?
Liebe ist kein isolierteres Gefühl, sondern ein Zusammenspiel. Liebe ermöglicht einen Umgang mit Emotionen. Man kann Liebe auch als eine Haltung begreifen: eine bewusste Entscheidung, die Dinge wohlwollend zu beurteilen. Betrachtet man die Liebe als einen Filter, dann wird es uns möglich, alle Emotionen in etwas Gewolltes zu verwandeln. Trauer wird zu einem Zustand, der eng mit Freude verbunden ist, denn um etwas zu betrauern, muss uns auch an etwas gelegen sein. Angst wird zu einer Möglichkeit, eigene Grenzen zu prüfen und zu erweitern. Wut wird zur wichtigen Warnfunktion, genauer hinzusehen, eigene blinde Punkte aufzuarbeiten. Verachtung wird sich dann von selbst auflösen und durch Verständnis und Toleranz ersetzt werden. Was wird aus Einsamkeit, wenn man sie einfach akzeptiert? Eine Notwendigkeit und Möglichkeit, sich selbst im Rückbezug auf sich besser kennenzulernen, sich anzunehmen, sich zu genügen, sich zu lieben. Sigmund Freud beschrieb das so: „Gewollte Vereinsamung, Fernhaltung von den anderen ist der nächstliegende Schutz gegen das Leid, das einem aus menschlichen Beziehungen erwachsen kann. Man versteht: das Glück, das man auf diesem Weg erreichen kann, ist das der Ruhe. Gegen die gefürchtete Außenwelt kann man sich nicht anders als durch irgendeine Art der Abwendung verteidigen, wenn man diese Aufgabe für sich allein lösen will.“ Plötzlich wird das Alleinsein zur Energiequelle. Denn die Einsamkeit kann auch als Pause verstanden werden. Als ein Sich-Zurückziehen. Im Wechsel von Fremdbezug und Selbstbezug erschließen wir uns die Realität. Einsamkeit bedeutet also, sich dieser Herausforderung des Selbstbezugs zu stellen. Sie ist Verantwortungsübernahme. Das mag einigen (zu) schwer erscheinen, doch kann ich nur durch diese Verantwortung mir selbst gegenüber auch Verantwortung für andere übernehmen. Und was wird aus Einsamkeit, wenn man sie nicht nur akzeptiert, sondern gar liebt? „Die größten Ereignisse – das sind nicht unsre lautesten, sondern unsre stillsten Stunden“, stellte Friedrich Nietzsche fest. Nur durch die Stille wird es mir wieder möglich, Freude am Klang zu empfinden. Was wäre Musik ohne Takt, der Stille neben Klang stellt? So wird Einsamkeit zur Voraussetzung für die Verbindung – wenn ich mich mir selbst nicht zumuten kann, wem sonst möchte ich mich dann zumuten? – und zum Wert an sich.
Artwork @nka.arte
Einsamkeit ist der Kunst was der Suppe das Salz
Einsamkeit ist nicht nur notwendige Beschaffenheit der Identitätsbildung und Grundmoment der Komposition des Lebens, sondern auch ein Schutzraum, der eine tiefe Auseinandersetzung mit der Welt ermöglicht. „Ein denkender Kopf kann mit seinem Zeitalter zufrieden sein, wenn solches ihm vergönnt in seinem Winkel zu denken, und sich nicht um ihn bekümmert; – und mit seinem Glück, wenn es ihm einen Winkel schenkt, in dem er denken kann, ohne sich um die Andern bekümmern zu dürfen“, wusste Arthur Schopenhauer. Die meisten großen Kunstwerke entstanden in einsamen Momenten, aus dem Geist derer, die die Einsamkeit zur Verbündeten erhoben anstatt sie als Feindin zu bekriegen. Erst wenn die Komposition der Musik geschaffen wurde, kann sie in der Überwindung der Einsamkeit mit anderen geteilt werden. Erst muss ein Gedanke im Stillen reifen, in Worte gekleidet werden, um anderen zugänglich zu werden. Eine Welt ohne Einsamkeit wäre eine Welt ohne Kunst. Auch Schopenhauer: „Einsamkeit ist das Los aller hervorragender Geister: sie werden solche bisweilen beseufzen, aber stets sie als das kleinere von zwei Übeln erwählen.“ Aber: Zur Kunst gehört nicht nur das Zulassen der Einsamkeit, sondern auch deren Überwindung. Sonst würde die Kunst nie andere Augen als die des*r Schaffenden finden. Kunst heißt also sowohl einsame Auseinandersetzung mit der Welt, als auch Teilen der Auseinandersetzung mit dieser. Erst dann wird die Kunst zur heilenden Erlösung. Die Einsamkeit zum einzigen Grundwert des Lebens zu erheben hieße ein verwirktes Leben. Ein Werk ist der Dialog aus Stille und Klang.
Von der Not zur Tugend
Wir können der Einsamkeit nicht entkommen. Fangen wir an, sie zu akzeptieren. Lernen wir, sie zu lieben. Wenn wir eines wissen, so ist es, dass wir nichts wissen. Jede Sicht ist nur eine unvollständige Perspektive. Das kann frustrieren oder ermächtigen. Denn das bietet einem die Möglichkeit, Perspektiven zu wählen. Wer sich über die Muster des Opferdaseins hinausbewegt und das Leben als eine Möglichkeit begreift, zu wachsen und dem Kern des eigenen Wesens nahezukommen, wer bereitwillig in die Auseinandersetzung und Aktivität geht, wer Verantwortung trägt, der kann sich dazu entscheiden, Einsamkeit nicht zu meiden, sondern wertzuschätzen. „Jeder liebt oder hasst nach Maßgabe seines inneren Wertes die Einsamkeit. In ihr fühlt der Jämmerliche seine ganze Jämmerlichkeit und der große Geist seine ganze Größe; da seufzt der Tropf im Purpur unter der Last seiner armseligen Individualität, während der Hochbegabte die ödeste Umgebung mit seinen Gedanken belebt“, um nochmals Schopenhauer als Verfechter dieses Gefühl zu Wort kommen zu lassen. Oder in den Worten Tolstois: „Auf der höchsten Bewußtseinsstufe ist der Mensch allein. Eine solche Einsamkeit kann sonderbar, ungewöhnlich, ja auch schwierig erscheinen. Törichte Menschen versuchen, sie durch die verschiedensten Ablenkungen zu vermeiden, um von diesem erhabenen zu einem niedriger gelegenen Ort zu entkommen. Weise dagegen verharren mit Hilfe des Gebetes auf diesem Gipfelpunkt.“ Auch Buddha wusste den Wert der Einsamkeit zu schätzen: „Allein sitzend, allein ruhend, allein umhergehend, frei von Trägheit; wer tiefe Einsicht in die Wurzeln des Leidens hat, genießt großen Frieden, wenn er in Einsamkeit weilt.“ Entwicklung heißt nicht, den Weg des geringsten Widerstands zu wählen, sondern Widerstände zu durchbrechen, indem ich mich mit den Tiefen auseinandersetze, auch wenn diese Leid beinhalten. Wer also Einsamkeit als Gefahr ansieht und sich der Auseinandersetzung versperrt, verbaut sich selbst die Möglichkeiten, diese zu überwinden. Er*Sie kann sie allenfalls vertuschen. Wer dieser passiven Definition des Begriffs ein Schnippchen schlägt, der wird die Chance verspüren, Einsamkeit zu einem unabdingbaren Wert zu erheben und zu einer Quelle der Inspiration.
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