von Nora Brandt
Artwork by @nka.arte
Was die Psychologie über die Liebe weiß
Wissenschaftlich gesehen ist Liebe ein Gefühl mit biochemischer Grundlage und neurobiologischen Mustern. Wir erleben sie als Gefühlszustand der Zuneigung, die vom Verhältnis der Personen abhängt. Neben der Selbst- und Nächstenliebe gibt es auch die partnerschaftliche Liebesbeziehung, die zumeist eine sexuelle Beziehung beinhaltet. Liebe kann einen bekanntlich in den siebten Himmel heben oder in tiefste Verzweiflung stürzen. Eifersucht und Besitzanspruch gehen oft miteinher und häufig markieren Enttäuschungen und Verletzungen das Ende einer Liebe. Und dennoch hat sie sich über die Jahrmillionen als einflussreicher Faktor menschlichen Verhaltens erhalten, denn Liebe ermöglicht es uns, Bindungen einzugehen, stärkt das Miteinander und erhöht evolutiv den Paarungserfolg. Kurzum: Sie sichert unserer Spezies das Überleben.
Süchtig nacheinander im Wortsinn
Neben der einfachen wissenschaftlichen Gleichung erweist sich die Praxis häufig als schwieriger und nicht alle sind in der Lage, Liebe zu empfinden. Psychische Störungen wie Depressionen, Traumata oder fehlendes Urvertrauen erschweren den Aufbau einer Liebesbeziehung. Und auch vice versa kann Liebe oder Verliebtheit einen deutlichen Effekt auf die Gesundheit haben. Liebesentzug kann einen in eine körperliche und hormonelle Krise stürzen und schlimmstenfalls zum Broken-Heart-Syndrom führen, das lebensgefährliche Folgen haben kann. Es handelt sich hierbei um eine plötzlich auftretende Funktionsstörung der linken Herzkammer, die mit herzinfarktähnlichen Symptomen einhergeht: Atemnot, Engegefühl in der Brust, starken Schmerzen und erhöhtem Herzschlag gepaart mit Schweißausbrüchen, Übelkeit und Erbrechen.
Auch bei Verliebten wirkt sich das Gefühl auf den Körper aus: Der Herzschlag ist erhöht, die Wangen werden stärker durchblutet und Haut und Hände sind feuchter. Verliebtsein wirkt im Körper wie Drogenkonsum und vernebelt das klare Denken: Das Glückshormon Dopamin überschwemmt das Gehirn, der Serotoninspiegel sinkt und der präfrontale Cortex, der für das rationale Denken zuständig ist, zeigt verringerte Aktivität. Verliebte sind ähnlich euphorisch wie Suchtkranke und Wahrnehmung und Handeln ändern sich aufgrund des veränderten Hormoncocktails. Die gute Nachricht: Dieser Zustand ist vergänglich. Der Körper gewöhnt sich mit der Zeit an die Rauschzustände, die Euphorie nimmt ab, die neuronale Verarbeitung geht wieder ihre gewohnten Bahnen. Körperliche Zärtlichkeit führt dabei zu einer Produktion des Bindungshormons Oxytocin und ersetzt den Dopaminrausch. So wird die Verliebtheit durch eine andere Emotion ersetzt: die Liebe. Auch diese lässt sich in Körper und Gehirn nachweisen.
Partnerwahl
In wen wir uns verlieben entscheidet neben Faktoren wie Aussehen, Charakter und Erscheinung auch insbesondere der Geruch. Pheromone haben nicht nur im Tierreich eine zentrale Funktion, denn sie besitzen Informationen zum Erbmaterial und machen Aussagen darüber, ob das Gegenüber zur Fortpflanzung geeignet ist. Gerüche steuern uns im Sinne genetischer Vielfalt unbewusst und tragen wesentlich zur Partnerwahl bei. Je stärker sich die Gene zweier Menschen unterscheiden, desto anziehender ist die Wirkung – denn je größer der Genpool, desto geringer die Chance vererbbarer Defekte, die zu Krankheiten führen.
Wurde das „perfekte“ Gegenüber gefunden und man entscheidet sich, eine Beziehung mit diesem einzugehen, heißt das noch lange nicht, dass man sich ein Leben lang verbunden fühlt, wie der deutliche Anstieg der Scheidungsrate seit den 1970ern beweist. Fast jede zweite Ehe wird mittlerweile geschieden. Das liegt nun aber weniger an biologischen Faktoren als an einer veränderten Gesellschaft, in der gängige Rollenbilder überschrieben werden und wirtschaftliche Faktoren keine lebenslange Zweckgemeinschaft mehr fordern. Dass Beziehungen auch Arbeit sind, ist bekannt. Ist der anfängliche Rausch verflogen, hormonell nach etwa vier Jahren, tritt der sogenannte Coolidge-Effekt ein, der bei einigen zu Enttäuschungen und letztlich zum Beziehungsabbruch führt. Wem es allerdings gelingt, die Beziehung aus der hormonellen und neurobiologischen Leere in ein anderes Format zu übersetzen, dem winkt Entlohnung: Denn wie oben erwähnt, löst das Hormon Oxytocin das Dopamin ab und bringt angenehme Nebenwirkungen mit sich. Es sorgt für das Gefühl von Geborgenheit und Vertrauen und reduziert Stress und Aggressionen. Die wohlbekannte Behaglichkeit und Entspannung einer mehrjährigen Beziehung stellt sich ein und Leidenschaft wird durch Vertrautheit abgelöst.
Artwork by @nka.arte
Zärtlichkeit, Sex und Bindungen
Auch die sexuelle Anziehung entscheidet über das Gelingen und Bestehen einer Beziehung, denn Sex und Orgasmen produzieren insbesondere bei Frauen die Bindungshormone Oxytocin und Vasopressin und stärken so die Bindung in Beziehungen. Guter Sex kann auch rauschähnliche Zustände herbeiführen. Das ist ein Grund, weshalb abnehmende Lust oft zu Beziehungsproblemen führt. Positiv gesehen könnte man auch sagen: Wo die sexuelle Lust abnimmt, sind Geborgenheit und Vertrauen wichtiger geworden.
Wie wichtig Körperlichkeit und Zärtlichkeit in jeder menschlichen Beziehung ist, beweist ein eindrückliches Experiment aus den 50er Jahren. Damals herrschte noch die Auffassung, dass Zuwendung Kindern eher schade, als dass sie ihnen nütze. Man ging basierend auf dem behavioristischen Modell der Konditionierung davon aus, Eltern würden durch Belohnung, hauptsächlich in Form von Nahrung, bestimmte Verhaltensweisen fördern – Liebe spielte in dieser Annahme keine Rolle. Zudem vertrat die Psychoanalyse (Freud) die Auffassung, dass Liebe lediglich auf Abhängigkeiten basiert. Sie beschreibt die Liebe und die Mutter-Kind-Bindung mithilfe der Triebtheorie und der Theorie der Objektbeziehungen und vertritt die Annahme, die Basis der Bindung sei die Befriedigung instinktiver körperlicher Bedürfnisse wie Hunger oder Sexualtrieb. Dabei waren damals schon zahlreiche Daten vorhanden, welche negativen Entwicklungsfolgen emotionale Vernachlässigung (Deprivation) bei Kindern hat. Schon Mitte des 20. Jahrhunderts zeigten Befunde, dass der Mangel an Zuwendung und Reizen zu verzögerter und gestörter körperlicher und geistiger Entwicklung führt, darunter motorische Verlangsamung, Teilnahmslosigkeit, soziale Kontaktstörungen, Wutanfälle, Angstzustände und Aufmerksamkeitsstörungen. Man sprach von Hospitalismus oder vom Kaspar-Hauser-Syndrom.
Mit diesen Vorstellungen wollte der US-amerikanische Psychologe und Verhaltensforscher Harry Harlow aufräumen und aufzeigen, dass Bindung nicht nur der reinen Bedürfnisbefriedigung entspringt und wie wichtig sie für Individuen ist. Dazu ersann er ein grausames Experiment, das als Harlow-Experiment in die Geschichte einging. Er trennte neugeborene Rhesus-Äffchen von ihren leiblichen Müttern und ersetzte sie diese durch zwei leblose Attrappen-Mütter: eine „Drahtmutter“ mit in Brustposition eingebautem Fläschchen und eine „Stoffmutter“ ohne Nahrungsangebot aber mit einem warmen, kuscheligen Körper. Wie Harlow erwartet hatte, tranken die Äffchen zwar öfter kurz an der Brust der „Drahtmutter“, suchten aber ansonsten die Nähe der „Stoffmutter“. Wurden die Äffchen durch mechanische Monster erschreckt, suchten sie ebenfalls den Schutz der „Stoffmutter“. Damit wurde bewiesen, dass nicht nur die Nahrungsfunktion, sondern hauptsächlich die Sicherheitsfunktion Bindungsverhalten auslöst und dass schlussfolgernd elterliche Zuwendung und Nähe für Kinder wichtig ist.
Auch der britische Kinderpsychiater John Bowlby untersuchte in den 50er Jahren die Folgen zerrütteter und abgerissener Mutter-Kind-Beziehungen und begründete mit seinem Buch „Bindung, eine Analyse der Mutter-Kind-Beziehung“ die heute allgemein anerkannte psychologische Theorie der Bindung (engl. „attachment“). Darin legt er dar, dass das lebenslange Streben nach engen, emotionalen Beziehungen etwas spezifisch Menschliches und Angeborenes ist. Bereits beim Neugeborenen sei es angelegt und bestünde bis ins hohe Alter fort. Dahinter stecke das Bedürfnis nach Sicherheit. Besonders im Kleinkindalter spielten Bindungen zur Mutter und anderen Bezugspersonen eine bedeutende entwicklungs- und persönlichkeitsprägende Rolle. Mit dieser Theorie galt Bindungsfähigkeit fortan als Merkmal einer psychisch stabilen Persönlichkeit. Bindungsverhalten ist laut Bowlby das Verhalten, das zum Ziel hat, „die Nähe eines vermeintlich kompetenteren Menschen zu suchen und zu bewahren“. Ist man einem geliebten Menschen nah, fühlt man sich gut; ist man von ihm getrennt, hat man Angst, ist traurig oder fühlt sich einsam.
Die romantische Liebe
Neben der elterlichen Liebe ist auch die partnerschaftliche Liebe Gegenstand der Forschung. Man unterscheidet hierbei zwischen einer evolutionspsychologischen und einer kulturellen Perspektive auf die Liebe. Evolutionäre Anpassungen bei der Partnerwahl und während der Partnerschaft weisen teilweise Unterschiede zwischen Mann und Frau auf. Beide Geschlechter suchen zwar gleichermaßen nach verständnisvollen, vertrauenswürdigen und hilfsbereiten Partnern*innen, die weibliche Partnerwahl orientiert sich aber stärker am sozialen Status, Männer hingegen sind eher an physischer Attraktivität und Jugendlichkeit interessiert. Dies führt auch zu einem unterschiedlichen Verhalten bezüglich der Eifersucht: Männer berichten über mehr Eifersucht bei der Konfrontation mit dominanten, mächtigen Rivalen, Frauen hingegen bei der Begegnung mit attraktiven Rivalinnen.
Die kulturelle Perspektive auf Liebe untersucht Liebe in verschiedenen Kulturen, Bevölkerungsschichten und historischen Epochen. In westlichen Ländern waren historisch gesehen lange wirtschaftliche Motive bei der Beziehungsbildung auschlaggebend, was heute noch in vielen Kulturkreisen der Fall ist. Aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen entwickelte sich in unserem Kulturkreis aber in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Ideal der romantischen Liebe, das die romantische Zuneigung in den Mittelpunkt einer partnerschaftlichen Beziehung stellte und diese zur Voraussetzung und Hauptkriterium für die Bildung einer Partnerschaft machte. Kennzeichen der romantischen Liebe sind die körperliche Anziehung der Partner*innen, das Erleben von Liebe auf den ersten Blick, physiologische Erregung und das rasche Entwickeln einer Bereitschaft, sich aufeinander einzulassen, ein sensibler und empathischer Umgang miteinander und die Absicht, für sich persönlich jeweils emotionalen Gewinn herauszuziehen. Zwar gilt die romantische Liebe heutzutage mehrheitlich als Ideal, nach Ansicht vieler Psychologen könnte sie aber ein Grund sein, dass viele Partnerschaften zerbrechen. Die romantischen Gefühle erweisen sich nämlich wie beschrieben nicht als langfristig und kommen einher mit Erwartungen, die dann enttäuscht werden.
Liebesstile der partnerschaftlichen Liebe Neben der romantischen Liebe unterscheidet man nach John Alan Lee noch fünf weitere Liebesstile innerhalb der partnerschaftlichen Liebe.
Die spielerische (unverbindliche) Liebe beruht auf der Idee der sexuellen Freiheit und der Verwirklichung sexueller Wünsche im Hier und Jetzt. Sie kennzeichnet eine vermeidende Bindungsrichtung und Unbehagen bei zu großer Nähe und Intimität. Sie kann auch Täuschung, Manipulation und Versteckspiel beinhalten und oftmals werden mehrere sexuelle Beziehungen gleichzeitig geführt.
Daneben gibt es die freundschaftliche Liebe, die aus langer Bekanntschaft oder Freundschaft entsteht, aus der sich erst später sexuelle Anziehung entwickelt. Im Mittelpunkt stehen gemeinsame Interessen und Aktivitäten, es herrscht emotionale Gelassenheit, Toleranz und gegenseitiger Respekt.
Eine hoch emotionale Form ist die besitzergreifende (obsessive) Liebe, in der die geliebte Person einmalig, unersetzbar und vollkommen erscheint. Sie ist eine intensivere und destruktive Liebesform, die nur selten als erfüllend empfunden wird. Die Bindung ist ängstlich-ambivalent, mit der ständigen Angst, verlassen zu werden. Die Liebe ist beherrscht von Eifersucht und beeinflusst den Alltag negativ, da der Fokus allein auf den*die Partner*in gerichtet ist, der*die sich hierdurch zumeist gestört und eingeengt fühlt. Diese Liebesform kann sich zur Besessenheit entwickeln und unter Umständen zu Psychosen führen.
Weniger emotional, dafür nutzenorientiert und analytisch-rational ist die pragmatische Liebe. Hierin werden Vor- und Nachteile bewusst abgewogen. Solide oder talentierte Partner*innen werden bevorzugt.
Zuletzt gibt es die altruistische (aufopfernde) Liebe, die das Wohl der geliebten Person in den Vordergrund stellt, sich nach deren Bedürfnissen ausrichtet und Opferbereitschaft beinhaltet. Menschen dieses Liebestyps fühlen eine tiefe Verbundenheit, die aus selbstloser Hingabe entspringt. Die Beziehung kann durchaus das Gefühl der Erfüllung bereiten. Wenn beide Partner*innen diesen Liebesstil pflegen, ist diese Form der Beziehung mit die beständigste, da sie das Gefühl von Verlässlichkeit und Geborgenheit spendet. Wird sie allerdings einseitig praktiziert, kann es zur Ausnutzung des*der altruistischen Partners*in kommen.
Koexistenz verschiedener Liebesstile
Generell findet das Konzept der romantischen Liebe die höchste Zustimmung, freundschaftliche, besitzergreifende und altruistische Liebe eine mittlere. Die niedrigste Zustimmung erhalten die spielerische und die pragmatische Liebe. Zwar gibt es die Unterscheidung in die genannten Liebesstile, oftmals sind diese aber nicht trennscharf und eine Liebe bildet ein Nebeneinander mehrerer Liebesstile ab. Romantische und altruistische Liebe existieren oft nebeneinander, ebenso romantische und spielerische Liebe, wenngleich stark romantische Liebe meist weniger spielerische Liebe beinhaltet. So kann es sein, dass beispielsweise eine Person zwar romantisch verliebt, aber untreu ist. Auffallend ist auch, dass die Anziehung der Liebenden zueinander mit den Liebesstilen zusammenhängt: Besonders romantische, altruistische Liebe und pragmatische Liebe beruhen auf Gegenseitigkeit, bei spielerischer, freundschaftlicher und besitzergreifender Liebe unterscheiden sich die Liebesstile eher. Freundschaftliche Liebe erweist sich über die Dauer am stabilsten, sie nimmt sogar mit der Zeit an Bedeutung zu. Romantische, spielerische und besitzergreifende Liebe nehmen mit der Zeit an Stärke ab.
Gegenentwurf zur romantischen Liebe: Die Liebe als universelle Kunst
Der Sozialpsychologe Erich Fromm setzte sich in seinem 1956 erschienenen Werk Die Kunst des Liebens mit der im 20. Jahrhundert praktizierten romantischen Liebe auseinander und kritisierte das marktwirtschaftliche Verhalten in dieser Liebesform, das eine Beziehung als Tauschgeschäft betrachtet, das möglichst profitreich für die eigene Person sein soll. Dabei, so Fromm, sei charakteristisch, dass man Probleme allein beim Gegenüber ausmachte und das Empfinden hätte, nicht oder nicht in ausreichendem Maße geliebt zu werden. Das Gefühl, geliebt werden zu wollen ergebe sich aus dem Streben nach Popularität und Sexappeal. Zudem sei ein Problem der romantischen Liebe, dass viele Menschen anfängliches Verlieben („falling in love“) und dauerhaftes Lieben („being in love“) miteinander verwechselten.
Mit seiner Abhandlung wollte er die Perspektive verschieben auf das Erlernen der eigenen Liebesfähigkeit, die er als Kunst beschrieb. Liebe setze Wissen und aktives Bemühen voraus und sei nicht nur ein schönes Gefühl, dem man sich einfach hingibt. Zudem appelliert er, dass der Liebe der höchste Stellenwert im Leben eingeräumt werden müsse, vor Erfolg, Prestige, Geld und Macht. Fromm ging davon aus, dass das Bewusstsein der Trennung der Menschen untereinander die Ursache von Ängsten, Scham und Schuldgefühlen seien, die nur durch die Vereinigung überwunden werden könne. Die meisten Arten der Vereinigung, die dem Menschen in der Diskrepanz zwischen Konformitätsbedürfnis einerseits und Individualität andererseits blieben, seien aber nur Teillösungen und unzureichend, die Angst der Getrenntheit zu überwinden: Die Vereinigung durch Konformität sei eine Pseudo-Einheit, die Vereinigung durch produktive (schöpferische, kreative) Tätigkeit sei nicht zwischenmenschlicher Natur, die orgiastische Vereinigung (z.B. autosuggestive Trancezustände, Drogenkonsum, sexueller Orgasmus) sei nur vorübergehender Art. Die einzige Vereinigung, die voll befriedigend sei, sei die zwischenmenschliche Einheit, also die Liebe. Aber eben diese Liebe, die so existenziell für den Menschen sei, werde oft falsch verstanden. Denn Liebe sei keine symbiotische Vereinigung, die auf Unterwerfung oder Beherrschung basiere. Reife Liebe sei jene, welche die eigene Integrität und Individualität bewahre, sei die Liebe einer reifen Person, die nicht aus Leidenschaft sondern aus freiem Willen entstehe und Lieben nicht als Aufgeben begreife, sondern als aus freien Stücken Geben, als Akt des Schenkens, in dem man sich überströmend, hergebend, lebendig und voll Freude fühlt. Sie sei Ausdruck der Gewissheit, einen auf beiden Seiten positiven Zuwachs zu gewinnen. „Er [Anm. d. Red.: der Mensch] gibt etwas von sich selbst, vom Kostbarsten, was er besitzt, er gibt etwas von seinem Leben […]; er gibt etwas von seiner Freude, von seinem Interesse, von seinem Verständnis, von seinem Wissen, von seinem Humor, von seiner Traurigkeit – von allem, was ihm lebendig ist. Indem er dem anderen auf diese Weise etwas von seinem Leben abgibt, steigert er beim anderen das Gefühl des Lebendigseins und verstärkt damit dieses Gefühl des Lebendigseins auch in sich selbst.“ Diese Liebe sei eine produktive, also eine aktive und kreative Handlung, welche die Elemente der Fürsorge, Verantwortungsgefühl, Achtung vor dem:r Anderen und Erkenntnis beinhalte. Man müsse sich um das Gegenüber bemühen, es in seinem Wesen und seiner Individualität begreifen wollen und so gut kennen, dass man um dessen Gedanken und Gefühle wisse.
Parallelen von Fromms Liebeskonzept zur Polyamorie
Zwar unterscheidet Fromm Liebe in Nächstenliebe, Mutterliebe, erotische Liebe, Selbstliebe und Liebe zu Gott, doch: Liebe sei aber mehr als eine Haltung, die sich auf ein einziges Objekt beziehe, sondern eine, die sich auf die ganze Welt erstrecken müsse. Ein Gedanke, der auch der Philosophie der Polyamorie zugrunde liegt. Ebenso teilt diese Liebesform den Gedanken, den*die Geliebte*n von den eigenen Ansprüchen und Erwartungen zu entkoppeln und der Erkenntnis des*der Anderen dadurch Raum zu verleihen.
Fromm spricht von einem Verfall der Liebe, der durch die westliche Gesellschaft einer kapitalistischen und marktregulierten Welt entstanden sei und beschreibt folgende Erscheinungsformen des Verfalls: die Liebesbeziehung zur gegenseitigen sexuellen Befriedigung, die Liebesbeziehung als möglichst gut funktionierendes Teamwork und die Liebesbeziehung, um geliebt zu werden, ohne selbst zu lieben. Daneben gebe es weitere, aus übermäßiger Mutter- oder Vaterbindung erwachsende, neurotische Formen: die zerrüttete Liebesbeziehung, die nur um des vermeintlichen Wohls der Kinder wegen aufrechterhalten wird; die abgöttische, oft als wahre große Liebe bezeichnete Pseudoliebe; die sentimentale Pseudoliebe, die sich in der Ersatzbefriedigung durch den Konsum von Liebesfilmen, -geschichten und -liedern manifestiert; Beziehungen, in denen eigene Schwächen auf den*die Partner*in projiziert werden; Beziehungen, in denen die eigenen Probleme auf die Kinder projiziert werden. Hier finden wir Bezüge zu oben genannten Liebesstilen nach John Alan Lee mitsamt ihren (negativen) Konsequenzen.
Der letzte Teil der Kunst des Liebens umfasst die Praxis der Liebe, also die praktischen Voraussetzungen, die zur Gestaltung von Fromms Liebesentwurfs gegeben sein müssen. Diese seien Selbstdisziplin, Konzentration, Geduld, die Bedeutung der Kunst anzuerkennen und ein Gespür für sich selbst. Unter Konzentrationsvermögen versteht er das Vermögen, mit sich allein sein zu können und sich ebenso auch auf andere konzentrieren zu können und ihnen zuhören. Konzentriert sein heiße auch, die Konzentration auf die Gegenwart zu richten. Um das Gespür für sich selbst zu entwickeln, sei das Wahrnehmen der inneren Stimme unerlässlich. Außerdem müsse der eigene Narzissmus überwunden und damit die Fähigkeit erlangt werden, Menschen und Dinge objektiv zu sehen, und nicht nur aus dem eigenen Blickwinkel. Grundlage der Objektivität sei die Vernunft und die der Vernunft zugrunde liegende emotionale Haltung sei die Demut. Wer also lieben können möchte, müsse zunächst Demut erlernen, den Narzissmus überwinden und somit zur Objektivität und Vernunft gelangen. Auch in diesen Gedanken stecken jene der Polyamorie, welche die Überwindung der Eifersucht und Verlustangst zum zentralen Thema hat.
Ein Wandel der Liebe erfordert einen gesellschaftlichen Wandel
Nur der rationale Glaube, der unabhängig von anderen ist und aus dem eigenen Denken und Fühlen wurzelt, könne Grundlage für menschliche Beziehungen wie Freundschaft oder Liebe sein: der Glaube an andere, der Glaube an sich selbst, der Glaube einer Mutter an ihr Neugeborenes (dessen Vorhandensein oder Nichtvorhandensein nach Fromm den Unterschied zwischen Erziehung und Manipulation ausmacht), sowie der Glaube an die Menschheit. Dieser Glaube erfordere Mut, also die Fähigkeit, ein Risiko einzugehen und die Bereitschaft, Schmerz und Enttäuschung hinzunehmen. Nicht Liebe und „normales Leben“ seien miteinander unvereinbar, sondern lediglich das Prinzip der Liebe und das Prinzip der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, nach dem nur so viel Liebe gegeben würde, wie man bekommen hätte. Sein Werk schließt mit folgenden Worten: „Wenn der Mensch zur Liebe fähig sein soll, muss der Mensch selbst an erster Stelle stehen. […] Die Gesellschaft muss so organisiert werden, dass die soziale, liebevolle Seite des Menschen nicht von seiner gesellschaftlichen Existenz getrennt, sondern mit ihr eins wird. […] Der Glaube an die Möglichkeit der Liebe als einem gesellschaftlichen Phänomen und nicht nur als einer individuellen Ausnahmeerscheinung ist ein rationaler Glaube, der sich auf die Einsicht in das wahre Wesen des Menschen gründet.“
Comments