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  • AutorenbildNora Brandt

VERTRAUEN: eine risikoreiche Vorleistung

Aktualisiert: 10. Okt. 2022


von Johanna Sänger und Lorenz Baumeister


„Grundlage allen Vertrauens ist die Darstellung des eigenen Selbst“

Niklas Luhmann


„Bevor ich mich jemandem öffne, muss ich erstmal wissen, ob ich ihm vertrauen kann.“ Klar! Wir alle wissen, was gemeint ist. Wir alle wollen, wir alle müssen darauf vertrauen, dass andere es gut mit uns meinen, ob wir nun den Arzt konsultieren, ein Flugzeug besteigen oder eben: eine Beziehung eingehen. Vertrauen, das heißt im Angesicht der Unsicherheit auf das Gute zu hoffen.


Foto: Saule Tertelyte


Doch ist das gar nicht so leicht, denn die Lage ist komplex: Unsere Zeit erkennt die Vorläufigkeit ihrer Konventionen („Zweierbeziehung“), ihres Wissens („Masken helfen nicht“) und ihrer Sicherheiten („Job im öffentlichen Dienst“) an. Auch Institutionen wie Staat und Wissenschaft verlieren an normierender und damit vertrauensstiftender Funktion. Alles ist prinzipiell als Konstruktion begreif- und entsprechend dekonstruierbar. Mehr noch, in Teilen der Gesellschaft – wohl vor allem in urbanen Bubbles – scheint die Dekonstruktion von Normen regelrecht die neue Konvention zu sein. Wir können also behaupten: Wir leben überwiegend in komplexen, ambivalenten und unsicheren Situationen, weil potentiell Sicherheit gebende Normen und Altbekanntes zerfallen. Das betrifft auch und insbesondere unsere Beziehungen, denn: Gibt es etwas Komplexeres als das Zusammenspiel zweier menschgewordener Universen? Entsprechend wichtig ist das Vertrauen, das aus der funktionalistischen Perspektive des Soziologen Niklas Luhmanns vor allem der Reduktion von Komplexität dient, Kontrollkosten reduziert und somit den Handlungsspielraum in unübersichtlichen Situationen erhöht.


Vertrauen macht das Leben leichter

Vertrauen stellt demnach eine Art Abkürzung dar: Die Chefin muss dem Mitarbeiter, dem sie vertraut, nicht alles detailliert erklären. Der Partner kann seiner Partnerin Freiheiten einräumen, wenn er ihr vertraut. Die psychologische Forschung legt dann das Naheliegende in Form von empirischen Ergebnissen auf den Tisch: So wie wir in den Wald hineinrufen, schallt es zu uns zurück – vertrauensvolles Verhalten ist reziprok. „Wir vertrauen denen, die uns vertrauen, und wir vertrauen ihnen, indem wir auf Vertrauen, das in uns gesetzt wird, mit Vertrauen antworten“, formuliert der Philosoph Ingolf U. Dalferth. Menschen, die einen tendenziell vertrauensvollen Blick auf die Welt haben, sind stärker intrinsisch motiviert, erleben mehr Selbstwirksamkeit, sind kreativer und innovativer (weil sie atmen können und weniger Angst haben müssen), können authentischer sein, haben eine bessere Kommunikation… Die Liste ließe sich fortführen. Vertrauen ist also eine richtig gute Sache. Ganz offensichtlich unterscheiden wir uns jedoch darin, ob wir der Welt eher misstrauisch oder eher vertrauensvoll begegnen. Was können Gründe dafür sein, dass das Vertrauen manchen leichter fällt als anderen?


Entscheidend sind frühkindliche Erfahrungen und unsere Weltwahrnehmung

Der Psychoanalytiker Erik H. Erikson hat in der Psychologie den Begriff des Urvertrauens geprägt. Er beschreibt den Sieg des Vertrauens über das Misstrauen als das entscheidende Moment der kindlichen Entwicklung im ersten Lebensjahr. Gelingt hier eine konsistente, feinfühlige Versorgung der individuellen Bedürfnisse durch verlässliche Bezugspersonen, ist der Grundstein für eine vertrauensvolle Haltung gelegt. Dann sind wir hoffnungsvoll und können das Leben bejahen. Kommt es jedoch zu Vernachlässigung oder aber auch Überversorgung, werden wir eher misstrauisch sein, weniger offen für Neues und Andere.

In sozialpsychologischen Begrifflichkeiten würde man allgemeiner von Monopolhypothesen sprechen. Das sind Grundannahmen über die Welt, die wir aufgrund unserer Lernerfahrungen bilden, wie etwa: „Männern kann man nicht vertrauen. Niemals“. Sie beeinflussen nicht nur unser Denken, sondern prägen vor allem unsere soziale Wahrnehmung. Bestätigende Hinweise nehmen wir eher wahr und widersprechende blenden wir eher aus. Das ist gut für die, die vertrauensstiftende Erfahrungen gemacht haben, aber gefährlich für die, die dieses Glück nicht hatten: Eine eher misstrauische Weltsicht kann zur self-fulfilling prophecy werden, also eigene Annahmen und Voraussagen in Realität umwandeln.

Unsere Erfahrungen entscheiden also maßgeblich, wie gut es uns gelingen kann, Vertrauen zu schenken, doch ist noch lange nicht alles entschieden. Wir können unser Vertrauen auch stärken. Nur wie?


Vertrauensbildung ist Learning by Doing

„Vertrauen ist nicht gegeben, es ist aufgegeben. Es wird in Beziehungen immer wieder erarbeitet“, meint der Psychoanalytiker Joachim Küchenhoff. Vertrauen ist also eine Aufgabe. Eine lebenslange Aufgabe, deren Bewältigung uns umso mehr Mut kosten wird, je ungünstiger unsere bisherigen Erfahrungen waren. Doch wenn wir uns dieser Erfahrungen und unserer entsprechenden Grundannahmen (Monopolhypothesen) bewusstwerden und neue, heilsame Erfahrungen zulassen, können wir Vertrauen jederzeit neu erlernen und aufbauen. So wie wir eine Sprache lernen, indem wir sie sprechen, und Tanzschritte, indem wir sie tanzen, lernen wir auch Vertrauen, indem wir es tun. Wir müssen Vertrauen aufbauen wie eine Brücke, die entsteht, indem wir sie beschreiten, ohne dabei zu wissen, ob sie hält. Entwicklung geschieht am Rande unserer Muster, beim Verlassen der berühmten Komfortzone. Da, wo es ein bisschen weh tut, aber nicht zu sehr. Dass wir optimalen Lernerfolg immer auf der Mitte von tiefenentspannt und angststarr erzielen, ist seit Anfang des 20. Jahrhunderts bekannt.

Vertrauen entsteht, wenn wir Verantwortung für uns und unser Gegenüber übernehmen. Verantwortung für uns selbst zu übernehmen setzt voraus, unsere eigenen Bedürfnisse und Grenzen möglichst gut zu kennen und diese klar und offen zu kommunizieren. Verantwortung für andere zu übernehmen bedeutet, dass wir mit dem Vertrauen, das uns geschenkt wird, sorgsam umgehen sollten. Wir müssen uns in unsere Beziehungspartner*innen einfühlen, die Folgen, die unser Verhalten für sie haben mag, einschätzen und dies auch in unsere Handlungsentscheidungen miteinbeziehen. Vertrauen heißt nicht, dem Gegenüber die volle Verantwortung zu übertragen und ohne weiteres davon auszugehen, dass er oder sie es schon in unserem Sinne richtig machen wird oder sie sogar mit unserem (scheinbaren) Vertrauen zu erpressen im Sinne von: „Ich vertraue Dir, also enttäusch mich bloß nicht“.


Artwork by @nka.arte


Sich zeigen und miteinander sprechen

Wenn wir wirklich Vertrauen schenken wollen, müssen wir bereit sein, die Kosten einer potentiellen Enttäuschung zu tragen. Dazu müssen wir einschätzen können, was wir wahrscheinlich (er-)tragen können. Idealerweise kennen wir uns selbst also ziemlich gut, insbesondere wenn wir uns vielleicht in das Geflecht von Lebens- und Beziehungsformen begeben, in denen Möglichkeiten und Grenzen immer wieder neu ausgehandelt werden müssen. Denn welchen Gewinn und welche Kosten was für wen bedeutet und mit welchen Gefühlen und Konstellationen wer umgehen kann und wer eher nicht, ist höchst individuell. So haben die einen mit der Anpassung an normative Beziehungsvorstellungen genauso zu kämpfen, wie die anderen mit der Erfüllung ihres emotional großzügigen und flexiblen Ich- und Beziehungsideals. Küchenhoff beschreibt, dass wir unsere Identität in unsere Beziehungen einbringen, was nicht bedeutet, dass wir uns nicht verändern dürften. Vielmehr gehe es darum, die eigene Entwicklung und damit Veränderung zu verstehen und genau dieses Selbstverständnis in die Beziehung einzubringen. Küchenhoff räumt ein, dass das alles leichter klingt, als es ist. Wir alle seien immer wieder geneigt, Beziehungsverhältnisse absichern und berechenbarer machen zu wollen. Er schlägt deswegen eine besondere Form der Absicherung vor, die eben nicht Normierung heißt, sondern: Gespräch. Das Gespräch sei eine „in­stitutionalisierte oder versprochene Möglichkeit, sich dort zu verständigen, wo Gewohnheiten und Vertrautheiten gefährdet sind“. Im Gespräch kann verlorengegangenes Vertrauen wiedergefunden werden.

Beziehung bedeutet, sich aufeinander zu beziehen, und nicht, in Beliebigkeit zueinander zu stehen. Durch Reibung entsteht Entwicklung. Für das Vertrauen können wir uns entscheiden.

Also: „Bevor ich mich jemandem öffne, muss ich erst mal wissen, ob ich ihm vertrauen kann?“ Nein.

„Ich entscheide mich, mich zu öffnen, damit Vertrauen entstehen kann?“

Ja.

Zeigt euch, mutet euch zu. It’s simple, but not easy.


Johanna Sänger hat sich nach dem Psychologiestudium in die Kognitiven Neurowissenschaften verirrt und sich bei der (vermeintlich) objektiven Vermessung innerer Welten schwer gelangweilt. An deren subjektiver Erkundung hat sie nun deutlich mehr Spaß. Sie arbeitet als Psychotherapeutin in eigener Praxis.


Lorenz Baumeister wollte ganz kurz Pfarrer werden, bevor er sich für die Psychologie entschied. Kurz überlegte er noch, alles zu schmeißen und Rockstar zu sein, blieb dann aber doch solide. Er arbeitet nun als Personalentwickler und systemischer Coach.

Instagram: @itsacombinationofthings



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